Europas Urlaub von der Geschichte ist vorbei

© Peter Kufner

Zur neuen US-Sicherheitsstrategie. Europa muss endlich aus dem Dornröschenschlaf aufwachen. Wir brauchen einen Optimismus der Tat.

11.12.2025 um 16:10, von Velina Tcharakova und Veit Dengler

In Europa herrscht noch die Illusion, die Welt ließe sich auf den Zustand vor 2014 zurückdrehen, sobald die Präsidenten Wladimir Putin und Donald Trump von der Bühne verschwunden sein werden. Russlands Krieg gegen die Ukraine, die erste Amtszeit von Trump oder auch der Auftritt von J. D. Vance in München 2025 waren in dieser Lesart nur vorübergehende Irrwege. Die neue Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) der USA bringt jedoch Gewissheit. Egal, wer im Weißen Haus sitzt: Die lange Auszeit Europas von der sicherheitspolitischen Realität ist vorbei. Washington teilt seinen Verbündeten unmissverständlich mit, dass die gewohnte amerikanische Schutzgarantie keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Das Jahr 2027 ist nun als Datum fixiert, ab diesem Jahr nämlich soll nach US-Wunsch Europa die Nato anführen. Die USA wollen sich auf die westliche Hemisphäre und den indopazifischen Raum konzentrieren.

Europäern fällt es schwer anzuerkennen, dass ein dauerhafter Frieden zwischen vormals verfeindeten Völkern zwar ein historisches Erfolgsprojekt der Europäischen Union ist, sich jedoch nicht auf den Rest der Welt übertragen lässt. Weite Teile der internationalen Politik haben sich längst vom Völkerrecht entfernt. Mächte verfolgen nationale Interessen zunehmend brutal, ohne Rücksicht auf die europäischen Vorstellungen einer regelbasierten Ordnung.

Zerstritten, zögerlich, unsicher

Die weltpolitische Realität ist ernüchternd. Strategie- und Handlungssouveränität besitzen heute nur die USA, China, Russland und Indien. Länder wie die Türkei, Israel, Saudiarabien, zum Teil auch Großbritannien und Frankreich, verfügen über eine partielle Autonomie, die aus der Bereitschaft entsteht, Macht auch einzusetzen. Indien ist das eindrucksvollste Beispiel: Neu-Delhi balanciert zwischen Washington und dem Drachen-Bären (der Achse China–Russland), verfolgt kompromisslos eigene Interessen und nimmt gegenwärtig sogar US-Strafzölle von fünfzig Prozent hin, um seinen geopolitischen Kurs beibehalten zu können. Europa hingegen reagiert zerstritten, zögerlich und mit wachsender Unsicherheit, ohne eine klare strategische Vision.

Die Langfassung der NSS reflektiert dies. Washington skizziert darin ein neues Gremium, ohne Europa, mit den USA, China, Russland, Indien und Japan, den sogenannten C5, das in regelmäßigen Treffen globale Probleme lösen soll. Das ist ein Paradigmenwechsel, nämlich die Abkehr von Europa als einem Eckpfeiler der Weltordnung.

Das ist auch der Grund, warum es den USA und Russland fast schon egal ist, ob die Ukraine der EU beitritt. Denn in jedem Fall soll die EU irrelevant werden, durch eine Divide-et-impera(Teile-und-herrsche-)Strategie anderer Mächte. Laut der NSS sollen nach dem ironischen Motto „Make Europe Great Again“ ausgewählte Staaten – darunter ausgerechnet Österreich, Ungarn, Italien und Polen – politisch und kulturell aus dem Einflussbereich der EU herausgelöst und in ein bilaterales Abhängigkeitsverhältnis zu Washington geführt werden.

Zeitlich fällt dieser Angriff auf die EU zusammen mit der andauernden wirtschaftlichen Schwäche Europas: „Kontinentaleuropa hat seinen Anteil am globalen BIP nach und nach verloren – von 25 Prozent im Jahr 1990 auf heute 14 Prozent.“ Der Abstieg zeigt sich auch am Anteil Europas am Marktwert der hundert weltweit führenden Unternehmen: Dieser ist seit dem Jahr 2000 von vierzig auf nur noch zehn Prozent gesunken.

Europa verhebt sich seit langer Zeit dabei, mehrere große Herausforderungen gleichzeitig zu meistern: ein sehr großzügiges soziales Sicherheitsnetz aufrechtzuerhalten, die industrielle Basis des Kontinents zu retten, die Welt anzuführen bei der Erreichung ambitionierter Klimaziele und die dringend notwendigen Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Die Wirtschaft verliert dabei den Anschluss an die USA, den Mittleren Osten und Asien. Gleichzeitig ist Europa so abhängig von Washington wie noch nie: in der Energieversorgung, der militärischen Abschreckung, in der Halbleiterindustrie, in großen Teilen der Rüstungsproduktion, bei Zöllen und Handelskonflikten, ja sogar bei der politischen Handlungsfähigkeit gegenüber Russland und China. Der russische Angriffskrieg hat diese Abhängigkeit nicht geschaffen, er hat sie bloß sichtbar gemacht. Ohne US-amerikanische Waffen, militärische Aufklärung, finanzielle Unterstützung und politischen Druck der USA wäre die Ukraine längst kollabiert.

Strategisches Denken

Die Ursache des stetigen Abstiegs Europas liegt tiefer, nämlich in der Denkweise zumindest der letzten beiden Generationen europäischer Entscheidungsträgerinnen. Sie haben verlernt, strategisch zu denken und zu handeln: den Einsatz knapper Ressourcen zur Erreichung von klar definierten Zielen. Über Jahrzehnte hinweg haben sie Ideologie über Realismus gestellt, politisches Wunschdenken über wirtschaftliche Notwendigkeit. Europa hat Narrative produziert, aber nicht umgesetzt; Ziele formuliert, aber keine Ressourcen mobilisiert; Risiken beschworen, aber sie nicht selbst getragen. Eine solche politische Kultur erzeugt nicht Wohlstand und Frieden, sondern – mit einem Zitat von Mario Draghi – eine „langsame Agonie“.

Dabei wäre echte strategische Autonomie möglich, allerdings zu einem Preis, den bislang nur wenige europäische Länder, etwa Dänemark und Schweden, zu zahlen bereit sind. Eine strategische Autonomie würde den Umbau des Sozialstaates erfordern, ein höheres Pensionsalter, massive Produktivitätssteigerungen, eigene Gas- und Rohstoffförderung sowie umfassende Verteidigungsausgaben von mindestens drei Prozent des BIPs. Noch ist das jedoch in vielen europäischen Ländern politisch nicht mehrheitsfähig.

Musterfall Österreich

Österreich ist dabei kein Sonderfall, sondern so etwas wie ein Musterfall. Die jahrzehntelange Gasabhängigkeit von Russland beruhte auf dem historischen Irrtum, geopolitische Stabilität könne vertraglich garantiert werden. Die Neutralität wird weiterhin als Kern der Sicherheitspolitik beschworen, obwohl sie nur mehr eine leere Formel ist. Das Bundesheer wird modernisiert, aber ohne die erforderliche ehrliche Sicherheitsdebatte. Österreich agiert, als stünde es außerhalb der Geschichte, und trägt damit paradoxerweise zur größten sicherheitspolitischen Lücke im europäischen Bündnisraum bei.

Was folgt daraus? Strategische Passivität war gestern ein Luxus, ist heute eine tödliche Gefahr und wird morgen zum systemischen Risiko. Sie ist „der langsame Tod“ eines Kontinents und kann tatsächlich in eine „zivilisatorische Auslöschung“ münden, vor der die NSS warnt. Allerdings nicht durch Migration, sondern durch wirtschaftlichen Niedergang, technologischen Rückstand und politische Uneinigkeit.

Für Europa, das nach 1989 Urlaub von der Geschichte nehmen konnte, beginnt das 21. Jahrhundert jetzt – mit der Frage, wie wir den politischen Willen zu eigener Sicherheit und zur Erneuerung unseres Wohlstands aufbringen. Die größte Gefahr für Europa ist nicht Putins Drang, ein neues russisches Großreich zu bauen und Kontinentaleuropa zu beherrschen, sondern Europas mangelnde Handlungsfähigkeit. Europa ist machtpolitisch unvorbereitet, unabhängig davon, wer in Washington sitzt. Wir können Trump verurteilen und mit Vance auf X streiten, aber das löst kein einziges strukturelles Problem.

Europa muss – in den unsterblichen Worten von Geier Sturzflug – wieder in die Hände spucken. Die Zeit des Lamentierens ist vorbei. Was zu schaffen ist, eine starke Wirtschaft und funktionierende Sicherheit, wissen wir. Nun gilt der Optimismus der Tat.

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Europe’s extremism problem

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„Österreich soll der Nato beitreten“ – Veit Dengler fordert ein Ende der sicherheitspolitischen Illusion