„Österreich soll der Nato beitreten“ – Veit Dengler fordert ein Ende der sicherheitspolitischen Illusion

© Foto: Isabelle Ouvrard/imago

NEOS-Außenpolitiker Veit Dengler fordert den Nato-Beitritt Österreichs. Im Gespräch erklärt er, warum Neutralität kein Schutz ist und wie Russland das politische Wien prägt. Ein Interview.

Österreichs außenpolitische Identität gründet seit Jahrzehnten auf Neutralität, Brückenbau und moralischer Ausgewogenheit. Für Veit Dengler, außenpolitischer Sprecher der NEOS, ist das ein gefährlicher Anachronismus. Angesichts von Russlands Krieg, hybriden Bedrohungen und globaler Unsicherheit müsse Österreich seine Rolle neu definieren und der Nato beitreten. Ein Gespräch über politische Selbsttäuschungen, den Wandel europäischer Sicherheitsarchitektur und die Frage, warum Neutralität längst keine Schutzgarantie mehr ist.

Herr Dengler, Sie haben mehrfach betont, dass Österreich in außenpolitischen Fragen über Jahrzehnte hinweg eine Haltung der strategischen Selbstberuhigung gepflegt habe. Was genau fehlt Ihrer Ansicht nach?

In Österreich gilt es in manchen Kreisen fast als unanständig, interessensgetrieben über Außenpolitik nachzudenken. Es gibt hier die Vorstellung, Außenpolitik sei ein moralischer Schönwetterraum, wo man „Brücken baut“ und „Konflikte moderiert“. Aber ein Staat hat vorrangig zwei Grundaufgaben: Sicherheit und Wohlstand der eigenen Bevölkerung. Das erfordert nüchternes, interessensbasiertes Vorgehen. Wir diskutieren viel, was für uns außenpolitisch relativ irrelevant ist, und zu wenig das, was sicherheits- oder wirtschaftspolitisch wirklich zählt. Etwa Energieabhängigkeit, regionale Stabilität am Westbalkan oder die Frage, wie wir uns gegen militärischen oder hybriden Druck schützen. Diese Prioritätenverschiebung ist das eigentliche Problem.

Österreich hat sich tatsächlich lange als „Brückenbauer“ verstanden, insbesondere aufgrund der Präsenz internationaler Organisationen in Wien. Hat dieses Konzept nach 2022 noch eine Existenzberechtigung?

Diese Brückenrhetorik war schon vor 2022 weitgehend symbolisch. Österreich war einmal in einer anderen geopolitischen Lage und hatte eine gewisse internationale Sichtbarkeit. Der Wunsch nach der Brückenbauerrolle spiegelt damit ein wenig diesen verlorenen Glamour wider: Wir waren einmal wichtig und wollen heute noch im Bild stehen. Die Rolle als Gastgeber internationaler Organisationen ist gut und wichtig, ersetzt aber keine strategische Orientierung. Die zentrale Frage lautet: Was brauchen wir zum Überleben? Eine stabile regelbasierte Ordnung, offene Märkte, verlässliche Sicherheitsgarantien. Das ist schlicht wichtiger als Fototermine in internationalen Empfangsräumen.

Eines der zentralen Elemente von Österreichs Brückenbauer-Mentalität ist eine tief verankerte Russland-Affinität.

Österreich ist seit Jahrzehnten von russischen Interessen geprägt. Nicht nur über Geheimdienstaktivitäten, sondern über soziale Elitenetzwerke, wirtschaftspolitische Interessen sowie eine gewisse sozialromantische Russophilie. Der Effekt ist, dass Russlands Verhalten in Österreich systematisch verharmlost und rationalisiert wird. Gleichzeitig werden die USA permanent kritisiert. Das ist eine Scheinausgewogenheit, ein politischer Reflex aus einer längst vergangenen Epoche. Dazu kommt auch das mangelnde Wissen Österreichs über Russland. Andere Staaten, wie beispielsweise Finnland, kennen Russland historisch ungleich besser und blickten auf Moskaus Verhalten stets realistischer. Diese Warnungen wollten wir aber nicht hören.

Wie lässt sich diese jahrzehntelange Prägung überwinden?

Nur durch Aufklärung, klare politische Sprache, und durch Medien, die aufhören, eine künstliche Gleichgewichtserzählung zwischen autoritären und demokratischen Systemen zu pflegen. Auch muss klar gesagt werden, Russland war für Österreich niemals ein unverzichtbarer Partner. Die russische Energie war niemals billig, schließlich kamen die Energieimporte stets zu Weltmarktpreisen. Österreichs, aber auch Deutschlands Energieabhängigkeit von Russland war kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen und Netzwerke, die russischen Interessen strukturell einen enormen Raum gegeben haben. Russlands Einfluss war damit vor allem politisch-kulturell, nicht ökonomisch-zwingend. Freilich spielte im Falle Österreichs die Neutralität eine wichtige Rolle.

Die Neutralität gilt für viele Menschen in Österreich als identitätsstiftender Kern des Staatsverständnisses. Warum halten Sie sie für realpolitisch überholt?

Die österreichische Bevölkerung setzt Neutralität mit Frieden gleich. Das ist nachvollziehbar. Und nach 1945 war sie stets eine Art emotionaler Selbstversicherung, jedoch entfaltet Neutralität keine Schutzwirkung. Wir gleichen einem Juwelier, der ein Schild „Bitte, nicht einbrechen“ aufhängt. Doch lassen sich potenzielle Täter davon wirklich abhalten? Neutralität liegt nicht allein in der eigenen Hand, man ist nur neutral, wenn andere einen auch neutral sein lassen. So wurden beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs alle neutralen Staaten in Europa angegriffen, die sich in der strategischen Aufmarschzone des Deutschen Reiches und der Sowjetunion befanden, von Finnland über Norwegen und Belgien bis Griechenland, nur mit Ausnahme der Schweiz und Schwedens. Neutralität war also kein Sicherheitsgarant, sondern eine von äußeren Machtverhältnissen abhängige Duldung.

Laut Dokumenten aus Ungarns Archiven hatte der Warschauer Pakt ausgearbeitete Pläne, Österreich im Ernstfall anzugreifen, auch mit Nuklearwaffen.

Genau. Im Kalten Krieg ist Österreich nicht deshalb verschont geblieben, weil es neutral war, sondern weil der Konflikt zwischen den beiden Blöcken nicht eskalierte. Österreichs Sicherheit war damit letztlich ein glücklicher Zufall. Neutralität schützt nicht gegen nukleare Bedrohung, nicht gegen Erpressung, nicht gegen hybride Einflussnahme.

Trotzdem unterstützen laut Umfragen rund drei Viertel der Bevölkerung weiterhin die Neutralität. Wie erklären Sie diese Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und sicherheitspolitischer Realität?

Erstens meinen die meisten Österreicher nicht Neutralität, sondern Friedenssehnsucht. Zweitens verweigert die politische Führung in Österreich eine sicherheitspolitische Debatte. Die Überbetonung der eigenen Neutralität verdrängt nur allzu oft die Frage, wie Sicherheit hergestellt wird. In Finnland und Schweden hatten vor 2022 ähnlich viele Menschen ein positives Verhältnis zur Neutralität. Nach Beginn der russischen Invasion gegen die Ukraine hat die Politik die veränderte Sicherheitslage anerkannt, Verantwortung übernommen und ihre Länder sicherheitspolitisch neu ausgerichtet. In Österreich hieß es hingegen: „Es gibt nichts zu diskutieren.“ Das ist keine Führung, das ist die Aufgabe jedweder Verantwortung.

Was wäre denn Ihres Erachtens die Alternative?

Österreich soll der Nato beitreten. Wer glaubt, man könne als kleines, hochvernetztes Land Wohlstand und Sicherheit erhalten, ohne Schutzgemeinschaft, der verwechselt Wunschdenken mit Strategie. Für kleine Staaten gibt es angesichts einer Bedrohung zwei mögliche Verhaltensweisen: sich klein machen und hoffen, übersehen zu werden oder sich einer glaubwürdigen Abschreckungsgemeinschaft anschließen. Die Nato ist das einzige Verteidigungsbündnis, das seit vielen Jahrzehnten funktioniert. Und Mitgliedschaft heißt auch am Tisch sitzen und mitentscheiden, statt als Passagier mitgeschleppt zu werden. Abgesehen davon, die Beistandsklausel im Artikel 5 zwingt niemanden automatisch zur Entsendung von Truppen; die Mittel darf jeder Staat nämlich selbst aussuchen.

Wie beurteilen Sie Vorschläge, eine eigenständige europäische Verteidigungsarchitektur aufzubauen?

Die EU wird innerhalb der Nato einen stärkeren Pfeiler entwickeln müssen, insbesondere wenn sich die USA langfristig stärker nach Asien orientieren. Denn eine eigenständige EU-Armee ist unrealistisch. Schließlich gibt es schon eine EU-Armee und sie heißt Nato. 23 von 27 EU-Staaten sind aktuell bereits Nato-Mitglieder, eine Parallelstruktur macht weder finanziell noch operativ Sinn.

Eine derartige Entwicklung ist aber mit dem Einstimmigkeitsprinzip in der EU kaum vereinbar.

Deswegen brauchen wir ein Europa variabler Geschwindigkeiten. Qualifizierte Mehrheit sollte zur Grundregel werden und Einstimmigkeit nur noch bei wirklich vitalen Interessen bleiben. Kurz gesagt: Mehrheit als Prinzip. Einstimmigkeit dort, wo die Konsequenzen existenziell sind.

Sie haben die EU-Erweiterung am Westbalkan als zentral für Österreich bezeichnet.

Ja, weil Instabilität am Westbalkan unmittelbare migrationspolitische, sicherheitspolitische und wirtschaftliche Konsequenzen für Österreich hat. Einen Paketbeitritt kann es freilich nicht geben. Montenegro und Albanien sind in den Verhandlungen am weitesten und sollten als Erste aufgenommen werden. Das ist keine Gefälligkeit, sondern in unserem ureigenen Interesse.

Wie schätzen Sie die Beitrittsperspektiven der Ukraine ein?

Die Ukraine ist ein Sonderfall, weil sie gleichzeitig militärischer Frontstaat und potenzielles Beitrittsland ist. Ein reines „Wartezimmer“ wäre für Kiew strategisch inakzeptabel. Doch auch ein Schnellbeitritt ohne Reformen und Vorbereitungen, so nicht zuletzt im Agrarbereich, wäre falsch. Ein gestuftes Modell – etwa über EFTA oder EWR – könnte als Zwischenschritt sinnvoll sein. Dies darf aber nicht zum Dauerzustand und Beitrittsersatz verkommen.

Was wären der größte außenpolitische Fehler und die größte Chance Österreichs in den kommenden fünf Jahren?

Ein weltanschaulicher Fundi-Neutralismus, wie ihn die FPÖ propagiert. Der Glaube, man könne sich aus einer vernetzten Welt herausdefinieren. Das wäre sicherheitspolitisch fahrlässig und ökonomisch gefährlich. Österreichs Wohlstand beruht auf Freihandel. Deswegen müssen wir aktiv an neuen Handels- und Sicherheitsstrukturen mitarbeiten, statt sie aus einer Haltung moralischer Selbstüberhöhung zu blockieren. Wenn wir das schaffen, wären wir ein ernstzunehmender Akteur.

Interview in Berliner Zeitung weiterlesen
Weiter
Weiter

Hauptsache, in ein Kastl stecken und Deckel drauf